Gratwanderungen – Vom Umgang mit(einander) (in) der Krise
In der interdisziplinären Ringvorlesung „Gratwanderungen“ möchten wir in Vorträgen von Experten und Expertinnen und in Gesprächsrunden mit ihnen einige Facetten der Pandemiesituation aufgreifen, die nun schon seit gut einem Jahr unser Zusammenleben nachhaltig prägt. Entscheidungen in Politik, Recht, Gesundheit oder Bildung erleben wir dabei als fortgesetzte „Gratwanderungen“. Zur Diskussion steht beinahe jedes Mal ein zu Viel oder zu Wenig, ein zu Nah oder zu Distanziert, ein zu ‚Rigide‘ oder ein zu ‚Locker‘. Phasen im strikten Lockdown wechseln ab mit solchen, in denen Lockerungen in Aussicht gestellt werden. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen dieser Zyklen bleiben schwer abzuschätzen. Viele Effekte für das gesellschaftliche Zusammenleben bereiten zu Recht große Sorgen. Der Krisenmodus scheint der Normalzustand zu sein, und so ist das Bedürfnis nach belastbaren Informationen und Austausch sehr groß. Die Ringvorlesung möchte hierfür einen Rahmen bieten.
Die RV findet digital statt. Alle Veranstaltungstermine werden über Zoom öffentlich zugänglich sein.
Hier finden Sie Plakat und Flyer zu dieser Veranstaltungsreihe.
Programm
Kein Abstract vorhanden.
‚Darf ein ganzes Land stillgelegt werden, um das Leben alter Menschen ein wenig zu verlängern?‘ Zu Beginn der Corona Pandemie wurde eine solche Frage von einigen wenigen laut gestellt, dann eher hinter vorgehaltener Hand. Die Corona Pandemie war nicht nur ein Härtetest für unser Land, für Föderalismus, Gesundheitssystem und Rechtsstaat, sondern auch eine Probe für unsere grundrechtliche Werteordnung. Ist das menschliche Leben der Höchstwert der Verfassung oder nur einer von mehreren? In welcher Schutzpflicht steht der Staat, was darf er gegeneinander abwägen und was gilt absolut?
Nach gut einem Jahr Leben mit der Pandemie zeichnen sich die damit verbundenen psychosozialen Herausforderungen genauer ab. Es sind spannungsvolle Zustände, die unsere Lebenspraxis eingeholt haben. Wir sind ermüdet von der Anstrengung, uns auf ungewohnten Wegen im Auge zu behalten, wir mobilisieren individuelle Ressourcen, um bei begrenzten Freiheitsgraden die neue ‚Normalität‘ im Alltag, in der Familie, im Beruf auszuloten, wir suchen verstärkt nach der Sinndimension des Miteinanders, wir hoffen in unserer Ratlosigkeit auf den Beistand anderer Menschen. In der Gesprächsrunde soll es u.a. um die Art und Weise der wechselseitigen Wahrnehmung gehen, um unseren Umgang mit der Sterblichkeit, um die bereits aufgerissenen Gräben zwischen den Generationen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aber auch um Kreativität, neue Spiritualität und die gelingende Regulation unserer Emotionen.
Wie bei vielen anderen Themenfeldern, so auch bei der Digitalisierung: die Corona-Pandemie hat wie unter einem Brennglas bestehende Mängel aufgezeigt und gleichzeitig Entwicklungen beschleunigt, potenziert und kanalisiert. Was macht das mit der Arbeitswelt? Und was macht es mit uns Menschen? Es scheint Fluch und Segen zugleich: Während die einen die neuen Freiheiten mit dem Laptop auf dem Balkon genießen, reiben die anderen sich zwischen Kinderbetreuung und zunehmender Entgrenzung von Privatem und Beruflichem auf. Fakt ist, das Rad wird man nicht zurückdrehen. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt und damit auch die Gesellschaft. Es stellen sich dabei grundlegende Fragen, die in der Gesprächsrunde diskutiert werden sollen: Welche Rahmenbedingungen muss die Politik setzen? Welche Regeln gelten in der neuen Arbeitswelt in Anbetracht von digitaler Prekarisierung und Entgrenzung? Wo stehen die Unternehmen in der Verantwortung, wo liegen die Potentiale? Und auf individueller Ebene: Was macht das Dauer-Homeoffice mit uns als ‚soziale Wesen‘? Sind wir ‚fit‘ für die schöne, neue digitale Arbeitswelt? Bedeutet – Stichwort Medienresilienz – Veränderung nur Stress oder lernen wir damit individuell und als Gesellschaft umzugehen?
Mit der Implementierung des ersten Lockdown im März 2020 ging die Frage einher, welche Bereiche von den historisch noch nie dagewesenen Einschränkungen ausgenommen werden mussten. Dabei kam es zu einer Reaktivierung des ursprünglich im Kontext der Finanzkrise um 2009 prominent gewordenen Begriffs der ‚Systemrelevanz‘. Im Vordergrund stand zunächst das Gesundheitswesen; darüber hinaus war es aber für eine ganze Reihe weiterer Infrastrukturen selbstverständlich, dass sie auch im Lockdown weiterlaufen müssen. Andere Bereiche, das hat das inzwischen vergangene erste Pandemiejahr gezeigt, sind – oft implizit – als ‚nicht systemrelevant‘ markiert worden. Vor diesem Hintergrund widmet sich der Vortrag aus soziologischer Perspektive der Frage, wie sich die Definitionskämpfe seit Beginn der Pandemie entwickelt haben: Wie wurde bestimmt, was als systemrelevant offen bleiben sollte und welche Bereiche zur Erreichung des Ziels der Senkung der Gesamtinzidenz geschlossen werden müssen?
Kein Abstract vorhanden.
Ein neues Krankheitsbild hat sich im Sommer 2020 herausgebildet: Man spricht etwa von ‘Long-Covid’, ‘Post-Covid Syndrom’ oder auch ‘Chronic COVID-19’. In Social Media, Blogs, fachspezifischen – an erster Stelle medizinischen – Zeitschriften wird über Symptome, Diagnosenstellung, Pathogenese, Krankheitsstatus und mögliche Therapien diskutiert. Besonders ist bei diesem auch durch die WHO inzwischen anerkannten Krankheitsbild die aktive Rolle, die Betroffene und Patient*innen in der Diskussion spielen. In unserem Vortrag zeigen wir Genese und Herausbildung einer Bewegung, die sich einerseits bemüht, das Thema der COVID-Langzeitfolgen überhaupt erst auf die Tagesordnung von Gesundheitswesen und Politik zu bringen und andererseits einen Einfluss auf medizinische Definitionen und Normierungsbestrebungen (Leitlinien) auszuüben.
Der Vortrag wird aus der Perspektive der Alltagskulturforschung einen genaueren Blick auf die oft beschworenen ‚Belastungen‘ werfen, die Einschränkungen und Verwerfungen unserer Lebensführung angesichts der Pandemie mit sich bringen. Die Höhe des persönlichen Risikos ist sehr ungleich verteilt. Doch alle müssen eingeschliffene, bewährte Routinen aufgeben und die Balance von Belastung und Erholung/Belohnung neu austarieren. Mit anderen Worten: Wir müssen das tragende Skelett der Lebensführung bei laufendem Betrieb umbauen, unterwegs zu ungewohnten Routinen. Was bringt so viele dazu, das durchzuhalten, obwohl ihr persönliches Risiko begrenzt und abstrakt ist? Was bedeuten ‚Nachlassen‘ und ‚Regelübertretung‘? Welche Alltagsmoral hilft uns, ‚Belastungen‘ anhaltend praktisch zu bewältigen?
Dr. Manuel Becker (Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn)
Prof. Dr. Volker Kronenberg (Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn)
PD Dr. Hedwig Pompe (Arbeitsstelle Internationales Kolleg)